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ALS

Kann Cannabis bei ALS helfen?

Inhaltsverzeichnis

Überblick

ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) ist eine tödlich verlaufende neurodegenerative Erkrankung, in der geschädigte Motoneuronen zunehmende Muskelschwäche und Muskelschwund verursachen. Die Überlebenszeit nach Diagnosestellung beträgt drei bis fünf Jahre. Derzeitige Medikation zielt auf eine Linderung der ALS-Symptome wie z.B. Muskelkrämpfe und Muskelzuckungen ab, doch mit unterschiedlichem Erfolg. Deshalb ist man auf der Suche nach Mitteln die nicht nur die Symptome lindern, sondern selbst das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen können. Vielversprechende Anwärter sind Inhaltsstoffe der Cannabis-Pflanze.

Die Ursache aller neurodegenerativen Erkrankungen sind Exzitotoxizität (Neuronenschäden durch Überaktivierung von Glutamat-Rezeptoren), oxidativer Stress (ein Ungleichgewicht zwischen der Produktion von freien Radikalen und antioxidativem Schutzsystem) und Neuroinflammation (Entzündungsreaktion im Gehirn und Rückenmark). Aktuelle ALS-Medikamente zielen meist auf einzelne Elemente ab, wie z.B. der Glutamat-Antagonist Riluzol, welcher einen begrenzten therapeutischen Nutzen hat und nur geringfügig wirksamer ist als ein Placebo, um die Lebenserwartung von Patienten zu erhöhen.

Die Aussicht auf ein Medikament, das auf alle drei ursächlichen Schädigungen bei ALS abzielt, ist von großem Interesse und könnte für ALS-Patienten viel verändern. Aus diesem Grund werden derzeit Verbindungen in der Cannabispflanze, die als entzündungshemmend, neuroprotektiv und antioxidativ bekannt sind, zur Behandlung von ALS erforscht. Tatsächlich besitzt die US-Regierung aus genau diesem Grund ein Patent auf Cannabinoide.

ALS und das Endocannabinoid-System

Ein weiterer Grund, warum Cannabinoide als potenzielle ALS-Medikamente von besonderem therapeutischen Interesse sind, ist ihre Fähigkeit, mit dem Endocannabinoid-System (ECS) zu interagieren und es zu modulieren. Denn das ECS spielt eine Rolle in der Entwicklung der Krankheit. 

Das ECS umfasst zwei Schlüsseltypen von G-Protein-gekoppelten Rezeptoren in der Zellmembran. CB1-Rezeptoren verteilen sich überwiegend im Gehirn und im zentralen Nervensystem. Im Gehirn machen sie sich vor allem in Bereichen bemerkbar, die mit motorischer Koordination und Bewegung, Aufmerksamkeit und kognitiver Funktion sowie mit Lernen, Gedächtnis und Emotionen zu tun haben. CB1-Rezeptoren regulieren die Freisetzung von chemischen Botenstoffen wie Neurotransmittern und schützen das Gehirn vor übermäßiger Aktivierung oder übermäßiger Hemmung.

CB2-Rezeptoren hingegen befinden sich vor allem in Immunzellen und im Gewebe, wurden aber auch in Gliazellen des zentralen Nervensystems entdeckt. Es wird angenommen, dass die CB2-Aktivierung eine immunmodulierende Wirkung hat, die die Freisetzung von Zytokinen steuert, den Proteinen, die für die Regulierung der Entzündungsreaktion verantwortlich sind.  

An die CB1- und CB2-Rezeptoren bindet sich eine Klasse von Molekülen auf Lipidbasis, die als Endocannabinoide bezeichnet werden. Die primären Endocannabinoide sind Anandamid (AEA) und 2-AG, die bei Bedarf produziert werden, wenn es eine Art biologisches Ungleichgewicht gibt. Sobald ihre regulierende Arbeit getan ist, werden sie von den Enzymen FAAH und MAGL abgebaut. All dies gibt uns einen Hinweis auf die Gesamtfunktion des ECS, nämlich die Förderung der Homöostase bzw. des Gleichgewichts aller physiologischen Funktionen.

In dem Beitrag „Cannabinoid pharmacology/therapeutics in chronic degenerative disorders affecting the central nervous system (Cannabinoid-Pharmakologie/Therapeutika bei chronisch degenerativen Erkrankungen des zentralen Nervensystems) beschreiben die Autoren, wie das ECS in der Lage ist, die wichtigsten Merkmale zu modulieren, die zu neurodegenerativen Erkrankungen wie ALS beitragen, und dass es sich somit „als ein realistischer Ansatz bei der Symptomlinderung oder dem Krankheitsverlauf durch pharmakologische Modulation der Endocannabinoid-Signalübertragung erweist“.

Studien an ALS-Tiermodellen und ALS-Patienten zeigen ein gewisses ECS-Ungleichgewicht im Gehirn und Rückenmark. Dies kann jedoch durchaus ein Zeichen dafür sein, dass das ECS seine neuroprotektive Arbeit leistet, und nicht die Dysregulation selbst eine Ursache für die Krankheit ist.

Insbesondere wurden erhöhte Konzentrationen von AEA und 2-AG bei ALS-Mäusen gefunden. Ebenso beobachtete man eine vermehrte CB2-Rezeptorexpression in Astrozyten an Läsionsstellen und Mikroglia in den Bereichen der spinalen Grauen und Weißen Substanz bei Tiermodellen und ALS-Patienten.

Jedoch scheint eine allgemeine Verminderung der CB1-Rezeptorexpression zu erfolgen, die bei Probanden Exzitotoxizität durch überschüssiges Glutamat herbeiführen kann.

Das vielleicht vielversprechendste Forschungsgebiet im Rahmen der Entwicklung von ALS-Medikamenten sind Wirkstoffe, die sich an CB2-Rezeptoren im Körper binden. In einer Studie an ALS-Mäusen verzögerte die tägliche Verabreichung eines CB2-Agonisten die motorische Beeinträchtigung und erhöhte die Überlebensrate um 56%.

Cannabis und ALS

Damit kommen wir direkt zur Cannabispflanze, die nämlich Verbindungen enthält, die an CB2-Rezeptoren binden und insgesamt eine modulierende Wirkung auf das Endocannabinoid-System haben.

Die Cannabispflanze enthält mindestens 144 Wirkstoffe, die Cannabinoide genannt werden, insbesondere Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD), sowie eine Vielzahl anderer organischer Verbindungen wie Terpene und Flavonoide.

THC bindet direkt an CB1- und CB2-Rezeptoren und hat eine neuroprotektive und entzündungshemmende Wirkung. CBD hingegen aktiviert keinen der beiden Cannabinoid-Rezeptoren, sondern wirkt eher indirekt auf das ECS, indem es das Enzym (FAAH) blockiert, das Anandamid abbauen kann. Interessanterweise ist einer der Schlüsselbereiche der ECS-Modulationsforschung die Entwicklung von FAAH-Hemmer-Medikamenten, die den AEA-Spiegel im Körper erhöhen sollen.

Dies verdeutlicht also, dass Verbindungen aus der Cannabispflanze therapeutisches Potenzial bei der Behandlung von ALS durch ECS-Modulation haben können. In einer Studie wurden ALS-Mäuse vor und nach Beginn der Erkrankung mit THC behandelt. In der Tat wurde eine Verbesserung der motorischen Leistung festgestellt und das Überleben der Krankheit erhöht, was vermutlich auf eine Verringerung der exzitotoxischen und oxidativen Zellschäden zurückzuführen ist.   

Klinische Studien

Bevor konkrete Schlussfolgerungen darüber gezogen werden können, ob Cannabinoide in der Behandlung von ALS wirksam sind, müssen Wissenschaftler zunächst den Sprung zu klinischen Studien am Menschen wagen. Leider war es angesichts des rechtlichen Status von Cannabis auf der ganzen Welt bis vor kurzem gelinde gesagt schwierig, Versuche an Menschen mit verschiedenen Formen von Cannabis durchzuführen.

Die vielversprechendste war bisher eine doppelblinde, randomisierte, placebokontrollierte, Phase II Studie mit Sativex (Nabiximols) zur Behandlung der Spastik bei ALS.

Sativex, ein cannabinoidbasiertes Pharmazeutikum mit einem Verhältnis von THC zu CBD von 1:1, wurde zur Behandlung von Spastik und Schmerzen bei Multipler Sklerose zugelassen. 55% der ALS-Patienten in der Studie berichteten über eine allgemeine Verbesserung von Spastik und Schmerzen, verglichen mit 13% in der Placebo-Gruppe. Darüber hinaus wurde das Medikament gut vertragen und wies nur leichte Nebenwirkungen wie Schwindel, Energiemangel und Verwirrung auf. Es ist zu hoffen, dass diese vielversprechenden Ergebnisse und das akzeptable Verträglichkeitsprofil zu einer größeren klinischen Studie in der Zukunft führen werden.

Eine weitere klinische Studie wird derzeit in Australien an 30 Probanden mit ALS durchgeführt, um die Wirkung eines CBD-dominanten Öls zu testen.

Verfügbarkeit von Cannabis

Dieser Mangel an überzeugenden klinischen Beweisen in größeren Testgruppen führt dazu, dass in den meisten Ländern, in denen medizinisches Cannabis legal ist, ALS keine Indikation ist. Allerdings erlaubt Spastik, vor allem im Zusammenhang mit MS, die Verwendung von Medizinal-Cannabis in Ländern wie Dänemark, Israel, Kanada und Deutschland. Dies kann Ärzten doch ermöglichen, auch bei anderen Erkrankungen mit Spastik und Muskelkrämpfen, wie z.B. ALS, diesen Behandlungsweg zu wählen.

Viele Staaten in den USA erkennen ALS als eine Indikation für medizinisches Cannabis an. Dazu gehören Arizona, Arkansas, Connecticut, Delaware, Florida, Georgia, Illinois, Iowa, Massachusetts, Michigan, Missouri, New Hampshire, New Jersey, New Mexico, Ohio, New York, North Dakota, Pennsylvania, South Carolina, Utah und West Virginia. In Alaska, Kalifornien, Colorado, District of Columbia, Hawaii, Louisiana, Maryland, Minnesota, Montana, Oregon, Rhode Island und Washington gelten Erkrankungen mit Spastik und/oder Muskelkrämpfen zusätzlich als Indikation.

Leider leben viele ALS-Patienten gar nicht in den Teilen der Welt, in denen medizinisches Cannabis gesetzlich zulässig ist. Das zwingt sie, sich auf dem bedenklichen Schwarzmarkt umzusehen. Eine weniger riskante Option wäre CBD-Öl.  Es enthält nur Spuren von THC oder gar kein THC, und ist in den meisten Ländern in Geschäften oder über das Internet frei erhältlich. Beim Kauf sollte man darauf achten, nur CBD-Öle zu wählen, deren Cannabinoid-Gehalt durch Labortests Dritter bestätigt ist.

Letztendlich besteht die größte Hoffnung für ALS-Patienten in weiteren klinischen Studien, die das belegen, was Wissenschaftler bereits im Labor entdeckt haben: dass Wirkstoffe aus Cannabis nicht nur helfen, ALS-Symptome zu behandeln, sondern auch das Fortschreiten der Krankheit verzögern und die Lebenserwartung verlängern.

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