In der gesamten Menschheitsgeschichte existieren in allen Zivilisationen umfangreiche Belege dafür, dass die Menschen Cannabis zu therapeutischen Zwecken und zur Behandlung vieler Krankheiten verwendeten. Allerdings wussten unsere Vorfahren nicht, warum diese Pflanzen funktionierten oder wie sie zur Heilung beitrugen – sie vertrauten einfach auf vereinzelte Nachweise und ihre Beobachtungen. Dieses althergebrachte Wissen über die Funktionsweise von Cannabis wurde noch bis ins letzte Jahrhundert hinein kaum verstanden.
Anfang der 1990er Jahre machten Wissenschaftler eine bedeutende Entdeckung, die das therapeutische Potenzial von Cannabispflanzen erklärte: ein bisher unbekanntes Kommunikationssystem, das an der Regulierung fast aller wesentlichen Funktionen im Körper beteiligt ist. Dieses faszinierende System aus Botenstoffen und Rezeptoren wurde nach den Cannabinoiden, also den Pflanzenstoffen, durch die die Wissenschaftler es überhaupt erst entdeckten, benannt und trägt daher den Namen „Endocannabinoid-System“
Entdeckung eines bisher unbekannten Regulationssystems
Die Entdeckung des Endocannabinoid-Systems begann in den 1940er Jahren als der US-amerikanische Chemiker Roger Adams das erste Cannabinoid namens Cannabidiol (CBD) isolierte. Jahrzehnte später isolierte der israelische Wissenschaftler Raphael Mechoulam Tetrahydrocannabinol (THC) und fand heraus, dass THC für die psychotrope bzw. berauschende Wirkung von Cannabis verantwortlich ist, während CBD keinerlei euphorischen Gefühle oder bewusstseinsverändernde Effekte verursacht. Obwohl diese Erkenntnisse die Grundlage für die Entdeckung des Endocannabinoid-Systems darstellen, wurde ihre wirkliche Bedeutung viele Jahrzehnte lang nicht verstanden.
In den 1980er Jahren stellte US-Präsident Ronald Reagan Forschern mehrere Millionen Dollar zur Verfügung, um zu beweisen, dass Marihuana Hirnschäden verursacht. Nachdem die Wissenschaftler jedoch herausgefunden hatten, dass diese Annahme falsch ist, stellte die Regierung unter Reagan weitere Gelder für zusätzliche Studien bereit, die ironischerweise zur Entdeckung des ersten Endocannabinoid-Rezeptors im Jahr 1990 führten. Im weiteren Verlauf führte die Entdeckung der Endocannabinoid-Rezeptoren (CB1 und CB2) zur Entdeckung der Stoffwechselenzyme, die mit diesen Rezeptoren interagieren.
Die Botenstoffe im Endocannabinoid-System
Wenn die Wissenschaftler nicht die Rezeptoren gefunden hätten, die auf Cannabis reagieren, hätten sie vielleicht nie erfahren, dass der menschliche Körper seine eigenen Cannabinoide produziert. Tatsächlich führte erst die Entdeckung der Cannabinoid-Rezeptoren zur Suche nach den Molekülen, die an sie binden – ihre Bindungsproteine.
Das Cannabinoid-Bindungsprotein Anandamid wurde 1992 entdeckt und 2-AG (2-Arachidonoylglycerin) kurz darauf. Heute wissen wir, dass dass Anandamid und 2-AG die Botenstoffe des Endocannabinoid-Systems sind. Anandamid und 2-AG werden als Endocannabinoide bezeichnet, da endo von der griechischen Vorsilbe für innen abgeleitet ist. Diese wichtigen Neurotransmitter interagieren mit den entsprechenden Rezeptoren im ganzen Körper und erfüllen zahlreiche Funktionen. Zum Beispiel:
- Anandamid
Wird auch als „Glücksmolekül“ bezeichnet und spielt eine wichtige Rolle bei der Regulierung der Stimmung und Gefühle. Ein zu niedriger Anandamid-Spiegel kann zu Depression, Angstzuständen und Schizophrenie führen. Viele verschreibungspflichtigen Medikamente zur Behandlung von Schmerzen und Depressionen steigern die Anandamid-Produktion oder hemmen die Enzyme, die es abbauen. - 2-Arachidonylglycerol (2-AG)
Studien haben gezeigt, dass zu den Hauptaufgaben von 2-AG die Verringerung von Entzündungen gehört und es für die Regulierung wichtiger Funktionen des Immunsystems verantwortlich ist. Wie Anandamid wird auch 2-AG für die Regulation der Stimmung, der Gefühle und des Schmerzempfindens benötigt, spielt aber auch eine Schlüsselrolle für das Gedächtnis, die Fruchtbarkeit und die Regulierung des Schlafrhythmus.
Die Rezeptoren des Endocannabinoid-Systems
Die Wechselwirkungen zwischen den Endocannabinoid-Botenstoffen und -Rezeptoren – CB1 und CB2 – regulieren wichtige Prozesse.
CB1-Rezeptoren
CB1-Rezeptoren kommen im ganzen Körper vor, vor allem im Gehirn und im Rückenmark. Die CB1-Rezeptoren im Hypothalamus regulieren die Leistungsfähigkeit und den Stoffwechsel, während die CB1-Rezeptoren in der Amygdala für die Regulierung der Emotionen und Erinnerungen zuständig sind. Auch an den Nervenenden sind sehr viele CB1-Rezeptoren vorhanden.
CB2-Rezeptoren
CB2-Rezeptoren finden sich zwar ebenfalls im ganzen Körper, sind aber am stärksten im peripheren Nervensystem konzentriert, also dem System, dass sich vom Gehirn und der Wirbelsäule bis in den äußersten Winkel des Körpers erstreckt. CB2-Rezeptoren regulieren die Organfunktionen und den Bewegungsapparat. Außerdem spielen sie eine wichtige Rolle im Immunsystem: Wenn Sie aktiviert sind, wirken sie entzündungshemmend.
Die im Körper produzierten Botenstoffe zur Beeinflussung der Endocannabinoid-Rezeptoren werden je nach Bedarf hergestellt und schnell durch Enzyme abgebaut. Im Idealfall kann der menschliche Körper alle erforderlichen Endocannabinoide für dieses wichtige Kommunikationssystem selbst herstellen. Aber bei Krankheiten, Verletzungen oder Stress kann der Bedarf an Endocannabinoid-Botenstoffen das Angebot schnell übersteigen. Wenn der Körper mehr von diesen essentiellen Botenstoffen benötigt, als er selbst herstellen kann, kann er Probleme bei lebenswichtigen Prozessen entwickeln.
Das Gleichgewicht des Endocannabinoid-Systems ist wichtig für die Gesundheit
Alle lebenden Organismen benötigen ein konsistentes Gleichgewicht der physiologischen Körperfunktionen und der Körper versucht ständig dieses Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Wenn das Gleichgewicht nicht wiederhergestellt werden kann, kann der Organismus nicht überleben. Bei den regulatorischen Maßnahmen zur Herstellung dieses Gleichgewichts im gesamten Körper handelt es sich um einen Prozess, der als Homöostase bezeichnet wird.
Viele Wissenschaftler glauben inzwischen, dass das Endocannabinoid-System für das Herstellen und Aufrechterhalten Homöostase (mit-) verantwortlich ist. Genau genommen ist das Endocannabinoid-System so wichtig für die Aufrechterhaltung der Homöostase, dass einige Wissenschaftler sogar davon ausgehen, dass ein Endocannabinoid-Mangel zu zahlreichen Erkrankungen wie Migräne, Reizdarmsyndrom, Fibromyalgie und verschiedenen neurodegenerativen Erkrankungen führen kann.
Pflanzenbasierte Cannabinoide können die Funktion des Endocannabinoid-Systems beeinflussen
Der Körper stellt seine Endocannabinoide zwar selbst her, aber letztendlich waren es die Phytocannabinoide (pflanzliche Cannabinoide), die zur Entdeckung des Endocannabinoid-Systems führten. Heute wissen wir, dass die Phytocannabinoide in Cannabispflanzen die Wirkung von Anandamid und 2-AG nachahmen und die Rezeptoren des Endocannabinoid-Systems beeinflussen. Die pflanzlichen Cannabinoide in Cannabis beeinflussen auch die Rezeptoren für andere wichtige chemische Botenstoffe, darunter GABA, Dopamin und Serotonin. Unter anderem werden diese Prozesse vom Endocannabinoid-System gesteuert:
- Gedächtnis und Lernen
Die CB1- und CB2-Rezeptoren wirken direkt bei Prozessen mit, die die Kognition, das Gedächtnis und das Lernen regulieren. CB1-Rezeptoren kommen in vielen Körperregionen vor, sind aber am stärksten in denjenigen Gehirnarealen, die für Kognition und Gedächtnis zuständig sind, konzentriert. Diese Rezeptoren steuern sowohl kognitive Prozesse als auch emotionale Verhaltensweisen, indem sie die neuronale Signalübertragung und die synaptische Plastizität verändern. Neuroplastizität ist die Fähigkeit des Gehirns sich selbst zu ändern, zu lernen und sich an neue Informationen anzupassen. - Appetitregulation
Forscher haben bereits vor Jahrzehnten erkannt, dass Hunger durch einen komplexen Prozess aus neurologischen, verhaltensbedingten und endokrinen Funktionen gesteuert wird. Studien, bei denen die Aktivierung von Cannabinoidrezeptoren im Gehirn untersucht wurde, deuten darauf hin, dass die Modulation von Cannabinoidrezeptoren unerlässlich für die Hungerregulation und den Stoffwechsel von Makronährstoffen und Fetten ist. Es gibt klare Belege dafür, dass die Modulation des Endocannabinoid-Signalwegs bei der Behandlung von Übergewicht und Essstörungen eine wichtige Rolle spielen könnte. - Temperaturregulation
Die Temperaturregulierung ist ein wichtiger homöostatischer Prozess, um die Kerntemperatur des Körpers beizubehalten. Der Körper hält bei unterschiedlichsten Umgebungstemperaturen stets seine Kerntemperatur – und damit sein inneres Gleichgewicht – aufrecht, indem er das sympathische Nervensystem aktiviert und die Herzfrequenz, die Gefäßweite und die Atmung anpasst. Darüber hinaus erhöht der Körper manchmal auch absichtlich seine Kerntemperatur, um Infektionen zu bekämpfen, wobei ebenfalls die Endocannabinoid-Rezeptoren eine Rolle spielen. - Immunsystem
Wissenschaftler glauben, dass die Endocannabinoid-Botenstoffe sowohl eine hemmende als auch eine stimulierende Wirkung auf das Immunsystem haben können, indem sie mit den CB2-Rezeptoren interagieren. Endocannabinoide wirken stark regulierend auf das Immunsystem, indem sie Entzündungen hemmen und die Zellaktivierung unterdrücken. Derzeit geht die Wissenschaft davon aus, dass die Modulation von Endocannabinoiden einen neuen therapeutischen Ansatz zur Behandlung von Entzündungen und Autoimmunerkrankungen bieten könnte. Es werden auch Studien zur Rolle des Endocannabinoid-Systems bei der Behandlung von Asthma, Multipler Sklerose, Osteoarthritis und verschiedenen Krebsarten durchgeführt. Die Untersuchungen zum therapeutischen Nutzen der Modulation des Endocannabinoid-Systems befinden sich allerdings derzeit noch in den Kinderschuhen.
- Fortpflanzungssystem der Frau
Endocannabinoide spielen eine entscheidende Rolle bei der Modulation des Fortpflanzungssystems der Frau. In Studien wurden komplexe Wechselwirkungen zwischen dem Endocannabinoid-System und dem Hypothalamus, der Hypophyse und den Eierstöcken festgestellt und es wird davon ausgegangen, dass die CB1-Rezeptoren Einfluss auf zahlreiche komplexe Aktivitäten haben. Die Eierstockzyklen werden durch das Zusammenspiel der Hormone, die von diesem Trio ausgeschüttet werden, gesteuert. Obwohl die Phytocannabinoide in Cannabis das Fortpflanzungssystem der Frau eher stören, da sie den Östrogen- und Progesteronspiegel senken, deutet die Beteiligung des Endocannabinoid-Systems an der weiblichen Fortpflanzung darauf hin, dass eine kontrollierte Modulation des Endocannabinoid-Systems für den Fortpflanzungserfolg unerlässlich ist. - Schlaf und Schlafrhythmus
Der Schlafrhythmus wird durch den Biorhythmus gesteuert, der wiederum vom Tag-Nacht-Zyklus abhängt. Auch hier spielt das Endocannabinoid-System eine wichtige Rolle: In Studien wurde herausgefunden, dass die Aktivierung von CB1-Rezeptoren unter Laborbedingungen Müdigkeit auslöst und das Endocannabinoid-System zu einem regelmäßigen Schlafrhythmus beiträgt, da es an der Regeneration der Homöostase beteiligt ist. Das Endocannabinoid-System beeinflusst auch viele weitere Prozesse, die einen erholsamen Schlaf stören können, darunter Stressreaktionen, Angstzustände, Verdauungsstörungen und Schmerzempfinden. - Schmerzempfinden
Das Endocannabinoid-System wird als eines der wichtigsten Systeme bei der Schmerzregulierung betrachtet, da es an jeder Phase der Schmerzverarbeitung beteiligt ist. Endocannabinoide und die zugehörigen Rezeptoren sitzen in allen Schmerzschaltkreisen des Nervensystems – von den Nervenenden des peripheren Nervensystems bis zum Gehirn. Die im Körper produzierten Endocannabinoid-Botenstoffe Anandamid und 2-AG spielen beide eine wesentliche Rolle bei der Schmerzausschaltung und Schmerzbehandlung. Wissenschaflter haben herausgefunden, dass das Schmerzempfinden sinkt, je mehr Anandamid im Blutkreislauf vorhanden ist. - Autonome Prozesse
Das autonome Nervensystem reguliert zahlreiche wesentliche Funktionen im Körper. Es untergliedert sich in zwei Anteile: den Sympathikus und den Parasympathikus. Das sympathische Nervensystem ist für die „Kampf-oder-Flucht-Reaktion“ verantwortlich, während das parasympathische System eher als „Ruhenerv“ oder „Erholungsnerv“ bezeichnet wird. Zu den vielen Prozessen, die vom autonomen Nervensystem gesteuert werden gehören unter anderem Herzfrequenz, Verdauung, Temperaturregulation, Atmung, Pupillenreaktion und Blutdruck. Studien deuten darauf hin, dass Defizite im Endocannabinoid-System zu einer Dysfunktion des autonomen Nervensystems führen können, was schwerwiegende Folgen für den gesamten Körper haben kann.
Supplementierung des Endocannabinoid-Systems mit Phytocannabinoiden
Da das Endocannabinoid-System bei all diesen Prozessen eine bedeutende und manchmal sogar kritische Rolle spielt, bietet es auch Optionen für bahnbrechende Behandlungen und Therapien bei vielen verschiedenen Erkrankungen.
Die in Cannabis vorkommenden Phytocannabinoide imitieren nachweislich die Wirkung der vom Körper selbst gebildeten Endocannabinoide. Durch die Beeinflussung bestimmter Rezeptoren haben pflanzliche Cannabinoide ein erhebliches therapeutisches Potenzial und können angstlösend, entzündungshemmend, brechreizmindernd, krampflösend und schmerzreduzierend wirken. Während die Erforschung ihres potenziellen Nutzens noch in den Kinderschuhen steckt, wächst das Bewusstsein für Cannabinoide rasant und es werden immer mehr Studien dazu durchgeführt.
Obwohl bereits viele Menschen die Botenstoffe ihres Endocannabinoid-Systems mit Cannabisprodukten supplementieren, insbesondere mit dem nicht-psychoaktiven und nicht berauschendem Cannabinoid CBD, muss beachtet werden, dass Cannabiskonsum nicht für jeden Menschen geeignet ist. Wer eine bestimmte Erkrankung hat oder Medikamente einnimmt, sollte vor dem Konsum von Cannabis den behandelnden Arzt konsultieren.
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